Infopanels „Hinterfragen“

Wer sind Sinti und Roma eigentlich?
Was bedeutet es heute, Sinti oder Roma zu sein? Wie wird an den Völkermord erinnert?

Diese und andere Fragen begegnen uns in unserer Arbeit immer wieder. Sie sind Ausgangspunkt und Leitfaden der 14 kompakten Info-Panels zur Geschichte und Gegenwart von Sinti und Roma in Deutschland.

Neben einem historischen Abriss und Begriffsdefinitionen stehen die exemplarische Präsentation der vielfältigen Selbstorganisationen sowie Portraits von Angehörigen der Minderheit im Fokus. Kernthemen sind Antiziganismus und Verfolgung, aber auch Selbstbestimmung und der lange Kampf um Anerkennung.

Die Infopanels laden zum Dialog und zur Auseinandersetzung mit einem vielfältigen Themenspektrum ein. Sie fordern auf, gesellschaftliche und politische Diskussionen sowie mediale Darstellungen etc. zu hinterfragen – und hinter die Fragen zu blicken. Die Info-Panels werden dauerhaft im Bildungsforum gegen Antiziganismus ausgestellt, sofern in den Räumlichkeiten zum jeweiligen Zeitpunkt keine Wechselausstellung präsentiert wird. Sie können ebenfalls als transportable Ausstellung an externe Einrichtungen verliehen werden. Derzeit erarbeitet das Bildungsforum gegen Antiziganismus pädagogische Materialien zu den Info-Panels „HinterFragen“, die in Kürze online erschienen werden.


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  • 1.
    Wer sind Sinti und Roma eigentlich?

    Seit Jahrhunderten leben Sinti und Roma in Europa. Sie sind mit rund 11 Millionen Angehörigen die größte Minderheit Europas. Zwischen 80.000 und 120.000 Sinti und Roma leben in Deutschland. Sie sind deutsche Staatsbürger_innen und seit 1995 eine anerkannte nationale Minderheit. Hinzu kommen zugewanderte Roma. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, da es keine offiziellen Erhebungen gibt. Die Sprache Romanes wird nach Schätzungen von 1/3 bis 3/4 der Sinti und Roma in Europa gesprochen. Sie ist dabei aber nicht einheitlich, sondern in zahlreiche Dialekte ausdifferenziert, die von den Sprachen der jeweiligen Heimatländer beeinflusst sind. In Deutschland ist Romanes neben Deutsch die Muttersprache vieler Sinti und Roma. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Ausgrenzungserfahrung: Angehörige der Minderheit werden in den verschiedenen Gesellschaften immer wieder ausgeschlossen und diskriminiert.

    Insgesamt gibt es viele verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Selbst- bezeichnungen, zum Beispiel Kalé, Manusch oder Lovara. Die Gruppen sind stark geprägt durch die Geschichte und Kultur(en) ihrer jeweiligen Heimatländer.

    Roma und Sinti sind in allen sozialen Schichten vertreten, gehen den unterschiedlichsten Berufen nach, gehören verschiedenen Glaubensrichtungen an und gestalten ihr Leben individuell.

    Die ursprüngliche Herkunft von Sinti und Roma ist schwer zu rekonstruieren, weil dazu keine Überlieferungen existieren. Aufgrund großer Ähnlichkeiten zwischen der Sprache Romanes und dem altindischen Sanskrit ist anzunehmen, dass Sinti und Roma ursprünglich in Teilen des heutigen Indiens lebten. Im heutigen Deutschland sind Sinti schon seit über 600 Jahren ansässig. Die erste urkundliche Erwähnung findet sich 1407 in Hildesheim. Ab dem späten 19. Jahrhundert wanderten auch Roma ins Deutsche Reich ein. Die Meisten kamen jedoch erst nach 1950 nach Deutschland.

    Ab den 1960er Jahren kamen Roma aus Jugoslawien nach Deutschland: Einerseits als „Gastarbeiter_innen“, andererseits weil sie in ihrer Heimat diskriminiert wurden und unter prekären Umständen leben mussten. Ihre Lebenssituationen veränderten sich nach Ankunft in Deutschland nicht wesentlich. In den 1990er Jahren zwangen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien viele Roma zur Flucht. Die meisten von ihnen wurden in Deutschland erst einmal geduldet, bekamen aber keine Aufenthaltserlaubnis. Viele von ihnen hatten Probleme eine Wohnung zu finden und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen.

    Seit 2014 hat sich die aufenthaltsrechtliche Situation für geflüchtete Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien deutlich verschärft. Mit der Einstufung Serbiens, Mazedoniens, Bosnien-Herzegowinas (alle drei 2014), Albaniens, Montenegros und des Kosovos (alle drei 2015) als „sichere Herkunftsstaaten“ wurden Abschiebungen in diese Staaten für die deutschen Behörden deutlich erleichtert.

    Viele der in den letzten Jahren abgeschobenen Roma sind in Deutschland aufgewachsen oder sogar geboren und werden nun in ein für sie fremdes Land abgeschoben. Die Situation in den als „sicher“ geltenden Ländern hat sich für Angehörige der Minderheit kaum gebessert. Noch immer müssen viele Roma in Ghettos außerhalb der Städte leben und leiden unter Diskriminierung und Ausgrenzung. Sie haben kaum Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und sind immer wieder Opfer rassistisch motivierter Gewalt.

  • 2.
    Welche Organisationen setzen sich für die Interessen von Sinti und Roma ein?
  • 3.
    Wo organisieren sich Sinti und Roma in Deutschland?
  • 4.
    Was bedeutet »rassistische Verfolgung«?

    Antiziganismus gab es schon, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Seit dem 18. Jahrhundert kategorisierten „Rasseforscher_innen“ Menschen nach ihrem Aussehen und schrieben den „Rassen“ unveränderliche Merkmale zu. Sogenannte „Zigeunerforscher_innen“ spezialisierten sich auf die eigens entwickelte „Rasse“ „Zigeuner“. Lang verbreitete stigmatisierende „Zigeuner“ Darstellungen aus den Populärmedien wurden ab der Aufklärung durch die „Zigeunerforscher_innen“ wissenschaftlich unterfüttert und die „Zigeuner“-Klischees auf das natürliche Wesen der Gruppe übertragen.

    Auch die Polizei folgte bereits vor 1933 solchen rassistischen Denkmustern. Im Jahr 1899 wurde bei der bayerischen Polizei ein „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner“, kurz „Zigeunerzentrale“ eingerichtet. Da „Zigeuner“ per se als verdächtig galten, setzte diese Stelle auf eine möglichst komplette Erfassung, unabhängig von konkreten Delikten. In den nächsten Jahrzehnten entstanden auch an anderen Orten im Kaiserreich ähnliche Polizeistellen.

    Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland wurden rassistische Theorien zum zentralen Instrument der Staatspolitik. Sie stuften Sinti und Roma als „artfremd“ und „minderwertig“ ein. Viele starben an diesem Eingriff oder hatten lebenslang mit den Folgen zu kämpfen. Ab 1935 waren Sinti und Roma ebenso wie Juden den diskriminierenden Bestimmungen der „Nürnberger Gesetze“ unterworfen, u. a. waren Beziehungen oder gar Ehen mit „arischen“ Deutschen verboten. Im gleichen Jahr entstanden auf Initiativen von Polizei und Behörden in zahlreichen deutschen Städten Zwangslager für Sinti und Roma. Sie wurden in diese Lager verschleppt, aus ihrem bisherigen sozialen Umfeld herausgerissen und von der restlichen Gesellschaft isoliert. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern waren äußerst schlecht, es gab keinerlei Privatsphäre und die Menschen waren der Willkür der Wachmannschaften ausgesetzt.


  • 5.
    Wie wurde aus der Verfolgung Völkermord?

    Zu den Hauptakteuren in der Erfassung und Verfolgung von Sinti und Roma im NS gehörten die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ und die Kriminalpolizei.

    Im Jahr 1936 entstand die „Rassenhygienische Forschungsstelle“. Ihre Aufgabe war, in enger Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei, die rassistische Erfassung von Sinti und Roma medizinwissenschaftlich durchzuführen. Leiter dieser Stelle war Robert Ritter, eine seiner engsten Mitarbeiter_innen war seine Assistentin Eva Justin. Robert Ritter und seine Mitarbeiter_innen nutzten die eingerichteten Zwangslager für ihre rassistischen „Untersuchungen“: Sie sammelten Informationen, befragten und begutachteten die in den Lagern internierten Männer, Frauen und Kinder. Die Mitarbeiter_innen der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ hatten mehr als 24.000 Menschen mit ihren Gutachten zu „Zigeunern“ kategorisiert. Diese „Gutachterlichen Äußerungen“ waren Voraussetzung für die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

    Zuständig für die lokale Verfolgung der Sinti und Roma waren die Kripoleitstellen, die bereits vor 1933 „Zigeunerpersonalkten“ anlegten und Repressionen auf sie aufgrund der Zuschreibungen von Kriminalität ausübten. Zuständig für den bürokratisch organisierten Völkermord an den Sinti und Roma war vor allem das Amt V (Reichskriminalpolizeiamt) des 1939 etablierten Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Dem von Arthur Nebe geleiteten Amt V unterstand die „Dienststelle für Zigeunerfragen“, welche die Ausgrenzungs- und Deportationsbefehle aus Berlin umsetze. Die Befehlskette reichte bis zu den örtlichen Polizeibehörden. Dem RSHA unterstanden auch die Befehlshaber der „Einsatzgruppen“, die hinter der Ostfront systematische Massenerschießungen von Juden, Roma, kommunistischen Funktionären und anderen zu „Reichsfeinden“ erklärten Gruppen durchführten.

    Erste Deportationen von etwa 30.000 Sinti und Roma aus dem Reichsgebiet erfolgten im September 1939 in das besetzte Polen. Etwa ein halbes Jahr später ordnete Heinrich Himmler die Deportation von weiteren 2.500 Sinti und Roma in das Generalgouvernement Polen an, wo sie in Zwangsarbeitslagern und Gettos interniert wurden. Bis zu den Deportationen ab Kriegsbeginn waren Sinti und Roma zahlreichen Maßnahmen ausgesetzt, die zu ihren Ausschluss aus ihren Berufen, aus Schulen und aus dem öffentlichen Leben führten. Außerdem wurden sie ab 1936 in kommunalen Zwangslagern oder ab 1938 in Folge der Erlasse gegen „Asoziale“ in Konzentrationslagern im Reich interniert.

  • 6.
    Was mussten Sinti und Roma in Auschwitz erleiden?

    Mit einem Erlass vom 16. Dezember 1942 ordnete Himmler die Deportation aller Sinti und Roma an, die sich noch in Deutschland aufhielten. Ab Februar 1943 wurden aus Deutschland und den besetzten Ländern Sinti und Roma in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Insgesamt waren dort circa 23.000 Sinti und Roma inhaftiert.

    Viele der Männer, Frauen und Kinder überlebten schon den Transport nach Auschwitz nicht. Denen, die lebend im Lager ankamen, wurden Häftlingsnummern mit dem Zusatz „Z“ für „Zigeuner“ eintätowiert. Sie wurden in primitiven Holzbaracken im Lagerabschnitt B II e, dem „Zigeunerfamilienlager“, zusammengepfercht. Die Zustände dort waren katastrophal. Viele Gefangene, vor allem Kinder, starben nach kürzester Zeit an Hunger, Krankheiten und durch Misshandlungen. Zudem wurden viele Sinti und Roma für grausame medizinische Experimente missbraucht, welche vor allem von Josef Mengele durchgeführt wurden, der Lagerarzt im „Zigeunerfamilienlager“ war.

    Am 16. Mai 1944 plante die SS die verbliebenen rund 6.000 Häftlinge des „Zigeunerfamilienlagers“ in den Gaskammern zu ermorden. Einige der Gefangenen erfuhren von den Plänen der SS und entschlossen sich, Widerstand zu leisten. Die SS zog sich an diesem Tag zurück. Dieser Akt des Widerstandes brachte die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz zumindest für kurze Zeit ins Stocken und rettete einigen der Gefangenen das Leben.

    In den folgenden Monaten wurden 3.000 von ihnen als „arbeitsfähig“ eingestuft und zur Zwangsarbeit in andere Konzentrationslager gebracht. Die zurückgebliebenen Frauen, Kinder, Kranken und Alten wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet.

  • 7.
    Wie war die Situation für Sinti und Roma nach Kriegsende?

    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchten die wenigen überlebenden Sinti und Roma oft erfolglos nach ihren Familienangehörigen und Bekannten. Durch die körperlichen und seelischen Folgen der Lagerhaft, den Verlust des sozialen Umfelds und ihres gesamten Besitzes standen viele vor dem Nichts. Von den deutschen Behörden konnten sie keine Unterstützung erwarten. Ganz im Gegenteil: Diese knüpften an die Praktiken der Ausgrenzung an.

    Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde in beiden deutschen Staaten kaum thematisiert. Einen angemessenen Umgang mit den Überlebenden und ihren Nachkommen hat es staatlicherseits nicht gegeben. Dies zeigte sich unter anderem bei Umgang mit Renten- bzw. Entschädigungszahlungen.

    In der DDR lebten nur wenige Überlebende des Völkermordes an den Sinti und Roma. Prinzipiell konnten sie Zugang zu Rentenzahlungen erhalten. Die dafür notwendige Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ war aber an diskriminierende Sonderbestimmungen gebunden, z. B. die Meldung beim Arbeitsamt. Zudem war diese Anerkennung immer wieder umstritten und konnte beispielsweise infolge von Denunziationen wegen angeblichen „asozialen Verhaltens“ wieder zurückge- nommen werden.

    In der BRD hatten Personen Anspruch auf Entschädigungszahlungen, die „aus Gründen der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ körperlichen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hatten. So steht es im 1953 verabschiedeten Bundesentschädigungsgesetz.

    Besonders folgenschwer war das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 7. Januar 1956, das im Wesentlichen die Argumentationsmuster der NS-Behörden aufgriff: Bei der Mai-Deportation 1940 habe es sich nicht um eine „spezifisch rassenverfolgende“ Maßnahme gehandelt.

    Die meisten NS-Täter_innen wurden nicht zur Verantwortung gezogen. So konnten beispielsweise Robert Ritter und Eva Justin ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen.

    In Polizeirevieren und anderen Behörden waren Sinti und Roma immer wieder mit Amtsträger_innen konfrontiert, die an Verfolgungsmaßnahmen in der NS-Zeit als Täter_innen beteiligt gewesen waren. Einige konnten sogar in Entschädigungsverfah- ren als „Expert_innen“ auftreten und ihre Taten erneut als legitimes Handeln im Rahmen der „Kriminalprävention“ darstellen.

    Auch in den „Landfahrerzentralen“, die bei verschiedenen Landespolizeien eingerichtet wurden, arbeiteten teilweise NS-Täter_innen. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist die 1946 als „Zigeunerpolizei“ gegründete und später umbenannte „Nachrichtensammel- und Auskunftsstelle über Landfahrer“ bei der Polizeidirektion München. Beamte wie Josef Eichberger, Karl-Wilhelm Supp und Rudolf Uschold waren schon während des Nationalsozialismus an der Verfolgung von Sinti und Roma beteiligt und konnten nun die pauschale Erfassung von Angehörigen der Minderheit fortsetzen. Dabei griffen sie auch auf Aktenbestände aus der NS-Zeit zurück.

    Ähnliche Kontinuitäten gab es an Universitäten und in der Forschung: Sophie Ehrhardt war bis 1945 Mitarbeiterin bei Robert Ritter an der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“. Ab 1950 arbeitete sie als Dozentin an der Universität Tübingen und griff für ihre wissenschaftliche Arbeit auf die Unterlagen der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ zurück. Zwischen 1966 und 1970 erhielt sie dafür von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Fördermittel. Ermittlungen gegen Sophie Ehrhardt in den 1960er und 1980er Jahren wurden ohne Ergebnis eingestellt. Ein Strafantrag wegen des Verdachts auf Beihilfe zum Mord, gestellt vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, wurde von der Staatsanwaltschaft Stuttgart zurückgewiesen.

  • 8.
    Was wurde gegen die anhaltende Diskriminierung unternommen?

    Das Trauma der Verfolgung und die Kontinuität der Diskriminierung im Nachkriegsdeutschland erzeugten bei vielen Überlebenden Gefühle der Angst und der Ohnmacht. In der Gesellschaft sichtbar zu werden oder sich gar politisch zu engagieren, war für viele von ihnen zunächst undenkbar.

    Nur eine kleine Gruppe von Überlebenden hatte die Kraft, diese Situation zu überwinden. Dazu zählten die Brüder Oskar und Vinzenz Rose, die 1948 eine erste Initiative starteten, die Verantwortlichen für den Völkermord an den Sinti und Roma vor Gericht zu stellen. Sie erstatteten beispielsweise Strafanzeige gegen den einstigen Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ Robert Ritter.

    Ein großes Anliegen der Bürgerrechtsbewegung war die Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma. Deswegen spielten Gedenken und Erinnern eine zentrale Rolle, um daran anknüpfend den Abbau von aktuellen Diskriminierungen zu erreichen. Mit Protestaktionen erwirkte die Bürgerrechtsbewegung ein verstärktes öffentliches Bewusstsein für die anhaltende Diskriminierung von Sinti und Roma.

    Im Jahr 1973 wurde der Heidelberger Sinto Anton Lehmann von der Polizei erschossen. Der „Verband Deutscher Sinti“ organisierte daraufhin in Heidelberg die erste öffentliche Demonstration gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma. Rund 100 Angehö̈rige der Minderheit kamen aus dem Bundesgebiet zusammen. Die Demonstrant_innen trugen schwarze Fahnen und forderten auf Transparenten, nicht mehr länger als „Menschen zweiter Klasse“ behandelt zu werden.

    Im Oktober 1979 fand eine erste große internationale Gedenkveranstaltung für die Opfer des Völkermordes auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen statt. Der „Verband deutscher Sinti“ hatte mit Unterstützung der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ eingeladen. Es nahmen rund 2.000 Menschen daran teil, darunter circa 500 Sinti und Roma aus zwölf europäischen Staaten.

    An Ostern 1980 traten zwölf Sinti, darunter drei KZ-Überlebende, in einen Hungerstreik. Ort war die Evangelische Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die Streikenden forderten unter anderem Aufklärung über den Verbleib und die weitere Nutzung der Akten der ehemaligen „Landfahrerzentrale“. Diese Akten waren teilweise von der Polizei weitergeführte NS-Dokumente, die Namen, Fingerabdrücke und persönliche Daten von Angehörigen der Minderheit enthielten. Beamt_innen der deutschen Kriminalpolizei und ehemaligen „Rasseforscher_innen“ hatten die Akten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ jahrzehntelang geheim gehalten. Dadurch waren wichtige Beweise über die NS-Verfolgung der Sinti und Roma unterschlagen worden. Bei Nachforschungen zu diesen Akten im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung stellte sich heraus, dass ehemalige „Rasseforscher_innen“ die Akten weiterhin für ihre wissenschaftlichen Forschungen genutzt hatten, u. a. an der Universität Tübingen. Mit dem Ziel, diese Akten ins Bundesarchiv nach Koblenz zu überführen, besetzten Sinti im Jahr 1981 den Keller des Tübinger Archivs. Die Protestierenden konnten zwar erreichen, dass die Akten ins Bundesarchiv gebracht wurden, bis heute ist der Verbleib weiterer Teile der NS- Akten jedoch ungeklärt.

  • 9.
    Welche Erfolge hatte die Bürgerrechtsarbeit?

    Im Februar 1982 gründete sich aus der Bürgerrechtsbewegung heraus der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Die Mitglieder wählten Romani Rose zum Vorsitzenden. Mit der Gründung des Zentralrats als Dachverband konnte eine politische Ver- tretung etabliert werden. Diese wurde zum Gesprächspartner u. a. der Bundesregierung.

    Nach einem langen Kampf stellte die Anerkennung des rassistisch begründeten Völkermordes an den Sinti und Roma einen großen Erfolg dar. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt schuf mit der Anerkennung am 17. März 1982 einen Neubeginn im Verhältnis der Bundesregierung zu den deutschen Sinti und Roma.

    Im Mai 1995 konnte der Zentralrat die gesetzliche Anerkennung von Sinti und Roma als nationale Minderheit sowie die Anerkennung des deutschen Romanes als Minderheitensprache erwirken. Entsprechend  der „Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen“ soll der Status als nationale Minderheit einen Schutz vor Diskriminierung garantieren sowie eine stärkere gesellschaftliche sowie politische Teilhabe ermöglichen.

    Im März 1997 wurde das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg eröffnet. In Ausstellungen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen gibt das Zentrum national wie international wichtige Anstöße zur gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NS-Völkermord, dessen Nachwirkungen und dem historischen und gegenwärtigen Antiziganismus.  Mit der Eröffnung des Berliner Büros im Jahr 2015, das sich zum Bildungsforum gegen Antiziganismus weiterentwickelt hat, zeigt das Dokumentations- und Kulturzentrum auch in der Hauptstadt Gesicht. Durch die Bürgerrechtsarbeit setzte sich der Bundesgerichtshof erneut mit seinem Urteil aus dem Jahr 1956 auseinander und 2016 erfolgte eine Entschuldigung der Präsidentin Bettina Limperg.

  • 10.
    Was heißt Antiziganismus?

    »Das Wort ‚Zigeuner‘ war in meiner Kindheit der erste Anlass für Tränen […] Wir haben dieses Wort untereinander nahezu nie benutzt. Wir brauchten es nicht! Dieses Wort wurde ausschließlich von den Anderen benutzt, damit sie unsdamit von Zeit zu Zeit die Peitsche geben konnten.«
    Jovan Nikolić im Interview „Geblieben ist mir nur meine Muttersprache“, 2009.

    Antiziganismus bezeichnet einen seit vielen Jahrhunderten bestehenden spezifischen Rassismus gegen Sinti und Roma. Bis heute ist er in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet und tief verwurzelt. Antiziganismus entsteht aus der Mehrheitsgesellschaft heraus, wobei die eigene Identität durch Abgrenzung zum vermeintlich „Anderen“ definiert wird. Der Antiziganismus erfüllt damit eine stabilisierende Funktion für die Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitigem Ausschluss der Minderheit.

    2005 forderte das Europäische Parlament die Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung von Antiziganismus auf. Im Jahr 2015 wiederholte es die Aufforderung und erkannte Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus an. Die mit ihm verbundenen Vorurteile werden jedoch oft nicht als solche erkannt, gesellschaftlich zu wenig geächtet und unterschätzt. Die radikalste Folge des Antiziganismus stellt der Völkermord dar, in dem 500.000 Angehörige der Minderheit ermordet wurden.

    Viele Studien belegen antiziganistische Einstellungen gegenüber Sinti und Roma. Die 2018 veröffentlichte Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland offenbarte erschreckende Zahlen: 60,4 (für Westdeutschland) bis  69,2 Prozent (für Ostdeutschland) der befragten Personen gaben an, dass Sinti und Roma zu Kriminalität neigen würden. Fast genau so viele, 56 Prozent, hätten ein Problem damit, wenn Sinti und Roma sich in ihrer Nähe aufhielten und 49,2 Prozent sprachen sich dafür aus, Sinti und Roma aus den Innenstädten zu verbannen.

  • 11.
    Was hat sich bis heute geändert?

    Der in der Mehrheitsgesellschaft tief verwurzelte Antiziganismus dauert bis heute an. Sinti und Roma werden immer noch regelmäßig Opfer diskriminierender Vorfälle und gewalttätiger Übergriffe. Der Berliner Verein Amaro Foro dokumentiert seit 2014 antiziganistische Vorfälle und Medienberichte in Berlin. Im Jahr 2017 wurden 252 antiziganistische und diskriminierende Vorfälle erfasst, 167 davon wurden von den Betroffenen direkt gemeldet – 14 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr. In den Medienberichterstattung konnten von 105 Artikeln 51 diskriminierenden Inhalts ausgemacht werden und etwa 80 Prozent der über 1000 Äußerungen und Kommentaren von Leser_innen unter den Medienberichten wurden als rassistisch und diskriminierend eingeordnet. Diese Zahlen sind nicht repräsentativ – es ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen. Die Zahl der Meldungen hängt unter anderem vom Bekanntheitsgrad des Projekts und dem Sensibilisierungsgrad in der Bevölkerung ab. Rassistisch motivierte Straftaten werden bis heute vergleichsweise selten als solche gewertet und von der Polizei verfolgt. Gegen das Vorgehen von Polizei und Behörden sowie die mediale Berichterstattung gab und gibt es immer wieder Proteste verschiedener (Selbst-)Organisationen, wie z. B. im „Fall Maria“. Die griechische Polizei hatte ein blondes Mädchen aus einer Roma-Familie geholt, weil das Kind ihrer Ansicht nach nicht zur Familie gehören könne. Ein DNA-Test belegte, dass Maria das leibliche Kind ihrer Eltern ist.

  • 12.
    Wie wird an den Völkermord an den Sinti und Roma erinnert?

    Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Sinti und Roma wurde von Gesellschaft und Politik lange Zeit verdrängt. Bis heute ist das historische Wissen darüber noch wenig verbreitet. Anknüpfend an die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung haben sich in den letzten Jahrzehnten vielfältige Formen des Gedenkens und Erinnerns entwickelt. Sie stellen nicht nur die Beschäftigung mit der Geschichte in den Mittelpunkt, sondern auch die aktuelle Relevanz dieser Auseinandersetzung in Zeiten anhaltender Diskriminierung von Sinti und Roma in Europa.

    Den 2. August erklärte das Europäische Parlament im Jahr 2015 zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. Bereits seit 1985 findet jährlich am 2. August eine Gedenkveranstaltung am historischen Ort des ehemaligen „Zigeunerfamilienlagers“ in Auschwitz-Birkenau statt.

    In Berlin befindet sich zwischen Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor der zentrale Gedenkort zur Erinnerung an die 500.000 ermordeten Sinti und Roma Europas. Das Denkmal entstand auf Initiative des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und wurde vom israelischen Künstler Dani Karavan entworfen. Das Denkmal besteht aus einem flachen, schwarzen Brunnen, dessen Kreisform Ausdruck für die Gleichheit aller Menschen ist. Das Wasser symbolisiert die Tränen. In der Mitte des Brunnens ist ein dreieckiger Stein, der an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnert. Auf diesen Stein wird täglich eine frische Blume gelegt, die gleichzeitig Symbol des Lebens, der Trauer und der Erinnerung ist.

    Für die Überlebenden und ihre Nachkommen war die 20 Jahre lange Auseinandersetzung um das Denkmal schwer zu ertragen.

    Am 24. Oktober 2012 wurde es im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel endlich eingeweiht.

  • 13.
    Was bedeutet es heute, Sinti oder Roma zu sein?

    »Für mich bedeutet es, Sinteza/Romni/ Sinto/Rom zu sein …

    „… als Romni politisch aktiv zu sein. Das ist für mich ein wichtiger Teil meiner Identität. Ich bin aber noch viel mehr als das: Ich bin eine junge Frau, die zwischen zwei verschiedenen Kulturen aufgewachsen ist, ich bin Berlinerin, die in dieser Stadt zu Hause ist und noch viel mehr …“
    Violeta

    „… Identität, Sprache, Kultur. Unabhängig von Herkunft oder sexueller Orientierung muss jeder frei und ohne Angst leben können. Ich bin euROMApäer!“
    Gianni

    „… unsere Sprache, da sie eine Mischung zwischen vielen Ländern, wie Frankreich, Spanien, Italien, Arabien usw. ist. Unsere Kultur, da sie einzigartig ist. Unser Glaube, der uns als Sinti oder Roma festigt und verbindet.“
    Aaron

    „… stolz zu sein, dass ich Sinteza bin. Ich bin ein Mensch mit Ecken und Kanten, wie jeder andere auch.“
    Samantha

    „… ,dass ich Bürgerin dieses Staates bin, mit allen Rechten und Pflichten.“
    Ilona

    „… nichts Besonderes, ich fühle mich nicht besonders. Bin genau wie andere auch. Für mich bedeutet es aber, für die Rechte der Roma und Sinti zu kämpfen und gleichzeitig gegen Rassismus und Antiziganismus einzutreten. Auch wenn ich – Gott sei Dank – in meinem Alltag nicht damit konfrontiert bin, möchte ich mich für die Menschen, die betroffen sind, einsetzen.“
    Iosif

    „… ein ganz normaler Mensch zu sein. Ich bin Sohn, Vater, Bruder, Onkel, Ehemann … Ein Mensch, der viel Liebe, Freude und Güte für andere empfindet und der einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besitzt. Ein Mensch mit vielen Schwächen und mit vielen Stärken. Einer unter Gleichen, der sich nicht mit der Rolle der Unterdrückten abgeben will und der für seine Volkszugehörigen einsteht.“
    Sami

    „… ein Reichtum. Ein Reichtum an wertvollen Sachen: eigene Identität, Sprache, Kultur und Tradition. Ich bin ein Mensch, der die gleichen Rechte genießt, nicht mehr oder weniger als die anderen.“
    Merdjan

    „… die Weiterentwicklung eines kulturell reichen Erbes, aus dem wir mit der darstellenden Kunst (Tanz / Theater/Film) neue zeitgenössische Formen entwickeln können, die Rom*nja und Sint*izze Power geben. Das ist Widerstand! Damit gestalten wir am Fundament mit, das durch die Nazis zerstört wurde und auf das nachfolgende Generationen bauen können.“
    Melanie

    „… mir der Geschichte unserer Minderheit bewusst zu sein und Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ich meinen Teil dazu beitrage, um eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe unserer Community zu erreichen.“
    Silas

    „… die Vielfalt unserer Menschen, unserer Lebensentwürfe, unserer Sprachen, unserer Perspektiven wertzuschätzen und die Erinnerung an unsere Geschichte(n) auf dem Weg in die Zukunft nicht nur zu erhalten, sondern auch aktiv mitzugestalten. Insbesondere die Zusammenarbeit in unseren Frauen*- netzwerken und die Solidarität mit anderen aktiven Rom*nja und Sinte*zzi bestärkt mich in meiner sozialen und politischen Identität.“
    Anonym